Keine Clubszene, keine Subkultur, dafür eine fünfstellige Vorwahlnummer und zwei Kirchen: Selbst auf den zweiten Blick erschließt sich nicht, warum ein Startup ausgerechnet in Kirchentellinsfurt Erfolgsgeschichte schreiben sollte. Hat der Online-Händler Bergfreunde.de aber – und verkauft heute mit 350 Mitarbeitern Outdoor-Ausrüstung an über eine Millionen Online-Kunden in Europa.
Als die Bergfreunde 2006 mit einem 140.000-Euro-Kredit aus dem Existenzgründerprogramm der Kreissparkasse Tübingen in einer ehemaligen Textilfabrik starten, sieht die Welt noch anders aus: Die Gründer sind zu zweit. Die angesagten Hersteller meiden den Online-Handel wie der Teufel das Weihwasser und pflegen lieber ihre traditionellen Vertriebspartner. Von der Goldgräberstimmung im E-Commerce ist nach der geplatzten Dot.com-Blase auch nicht mehr viel übrig.
Eckhard Kurz, Kundenberater der Kreissparkasse Tübingen, weiß zwar, dass die Bergfreunde in ihrer Nische enorm vom Online-Boom profitieren, als er ihre Betreuung 2008 vom scheidenden Kollegen übernimmt. Aber er kennt natürlich auch die Untiefen: „E-Commerce braucht hohes Tempo, die Ware muss ruck-zuck beim Kunden und deshalb vor Ort vorrätig sein. So einen Wachstumsprozess über eine Bankenfinanzierung zu fördern, ist spannend“, sagt er.
Trotzdem ist er zuversichtlich. Denn die Bergfreunde zeigen von Anfang an Gipfelstürmerqualitäten, setzen im ersten Geschäftsjahr 1,6 Millionen Euro um, im zweiten schon zwei Millionen mehr. Dass es zehn Jahr später bereits 87 Millionen Euro sein würden, ahnt der Berater nicht. Dafür merkt er schnell, dass ein Führungsteam mit viel Kompetenz und klarem Fokus auf E-Commerce an Bord ist und die persönliche Kundenansprache im Web unglaublich gut funktioniert. „Bergfreunde.de können ihre Kunden online begeistern und binden. Das klappt bei denen auch digital“, erzählt Kurz, der privat selbst gerne draußen unterwegs ist. „Da springt der Funke über.“
Dasselbe muss irgendwann im Laufe der 15-jährigen Partnerschaft auch zwischen der Kreissparkasse und den Bergfreunden passiert sein. Vielleicht bei der Verhandlung von Erweiterungsdarlehen oder der Vermittlung einer Leasing-Finanzierung. Möglicherweise aber doch eher in dem Augenblick, als die Sparkasse nach anfänglicher Skepsis genauso von der hundertprozentigen Online-Ausrichtung ihres Kunden überzeugt war wie die Bergfreunde selbst. Die wollten nämlich nie ein Ladengeschäft haben, mussten aber eines betreiben, weil man bei der ebenfalls beteiligten Bürgschaftsbank nicht ausschließlich auf die Online-Karte setzen wollte.
Er habe eine Weile gebraucht, um sich einzugrooven, erzählt Kurz, der schon einige Jahrzehnte im Geschäft und heute „einer der Letzten mit Krawatte“ ist. Er erinnert sich noch gut daran, wie spannend er die Kultur des jungen Unternehmens damals fand: E-Mail-Adressen nur mit Vornamen. Eine Geschäftsführung, die ihren Mitarbeitern viele Themen anvertraut und dann auch dort belässt. Firmenwagen zur Mitarbeiterbindung nur noch Schnee von gestern. Dafür einen Tischkicker im Flur. „Das hatte ich vorher noch nie gesehen. Heute haben wir selber einen“, lacht der Berater.
Die Welt dreht sich währenddessen allerdings auch bei Bergfreunde.de weiter. Das ehemalige Startup verdoppelt den Umsatz alle drei Jahre und wird schneller flügge als gedacht. Als die Bergfreunde zehn Jahre nach ihrer Gründung im nahen Ergenzingen eine vollautomatische Lagerhalle in Betrieb nehmen, gehören sie schon längst zum amerikanischen Outdoorspezialisten Backcountry. „Wir brauchten Investoren, um das enorm hohe Wachstumstempo mitgehen zu können“, erläutert Ronny Höhn, Wegbegleiter der ersten Stunde und seit 2010 Mitglied der Geschäftsführung, die damalige Entscheidung.
Eckhard Kurz hatte damit zwar die Kredit- und Finanzberatung verloren, weil die Bergfreunde seither zentral über die Firmengruppe finanziert werden. Die Sparkasse dafür aber einen Kunden, der urplötzlich einige Briketts nachlegen und ein größeres Rad drehen konnte: Während die Bergfreunde ihre weiterhin bestehende operative Freiheit nutzen, um Deutschlands größter pure player für Bergsport-, Kletter- und Outdoorausrüstung zu werden, regeln Kurz und Kollegen den in- und ausländischen Zahlungsverkehr, konsolidieren die Konten und kümmern sich um die betriebliche Altersvorsorge.
Für Höhn und die Bergfreunde, die mittlerweile im Paket mit Backcountry für 350 Millionen Dollar an die amerikanische Private-Equity-Firma TSG Consumer weitergereicht wurden, eine runde Sache: „Die Kreissparkasse Tübingen hat uns von der Gründung an als zuverlässiger Partner begleitet und bleibt trotz der Gruppenfinanzierung unser zuverlässiger regionaler Partner im operativen Tagesgeschäft
Veröffentlicht in der Sparkassenzeitung, Juni 2020